Wir von den Frauenstudien München haben überlegt, was unser Jahr besonders gemacht hat, was uns bewegt, geärgert und auch gefreut hat: unser ganz persönlicher Jahresrückblick 2016.
Susanne Klingner
Die Welt von der anderen Seite sehen
2016 war für mich das Jahr der Veränderungen. Na gut, eigentlich ist immer Veränderung, mal kommt ein Kind dazu, mal ein neuer Job, mal ein neues Projekt. Aber dieses Jahr war’s eine Nummer größer: Ich habe meinen Job für 10 Monate auf Eis gelegt und bin mit meiner Familie in die USA gezogen. Das heißt, vom Aufstehen bis zum Schlafengehen sah mein Leben von einem Tag auf den anderen komplett neu aus. Ich habe neue Leute kennengelernt, spreche den ganzen Tag in einer fremden Sprache, gehe einmal in der Woche an die Uni, wo ich zum letzten Mal vor 12 Jahren war. Und ich habe den Magazinjournalismus, den ich seit fast 20 Jahren mache, eingetauscht. Plötzlich mache ich Radio oder eher: Ich lerne Radio… Mich hat 2016 eine Lust überfallen, alles in meinem Leben auf den Kopf zu stellen, in dem ich mich bis dahin ziemlich gut eingerichtet hatte. Gar nicht aus einer Krise heraus oder aus der Not, sondern tatsächlich komplett aus reiner Lust und Neugierde. Und wenn man die Koordinaten des eigenen Lebens mal so richtig kräftig durchschüttelt, erschüttert das auch die Gedanken, die man so denkt. Und es öffnen sich Gedankenwelten, in denen man auch mal das komplette Gegenteil der bisherigen eigenen Wahrheiten durchspielen kann. Heißt: erst einmal jede Position anzunehmen. Sie sich in Ruhe anzuschauen, die eigene Reaktion genauso anzuschauen, auch genauso kritisch. Was bei mir den Wunsch genährt hat, dass 2017 das Jahr der ruhigen Argumente wird – nachdem sich 2016 anscheinend nun jeder einmal mit jedem angeschrien hat. Es braucht mehr wirkliche Gespräche, mehr Zuhören, mehr Nuancen, mehr den-Menschen-hinter-dem-Argument-sehen. Auch im Feminismus.
Barbara Streidl
Zweifache Niederlage
Was mir immer noch in den Knochen steckt, ist der US-Präsidentschaftswahlkampf. Neben Donald Trump, der sich quasi damit gebrüstet (favorisiert er nicht Doppel-E?!) hat, frauenfeindlich zu handeln, Sexismus als selbstverständlich zu erachten als Celebrity, hieß es über seine Gegnerin, Hillary Clinton mache keinen richtigen Feminismus, sondern sei das Gegenteil all derjeniger, die sagen „Ich bin zwar keine Feministin, aber…“ (, … ich handele zumindest an einigen Stellen in feministischen Sinne): Sie bezeichnet sich selbst als Feministin, was ihr aber nicht geglaubt wird von denen, die sie überzeugen möchte, nur von denen, die sie eh hassen und als Feministin noch mehr. Was ein Wirrwarr!
Trump hat gewonnen, der Feminismus doppelt verloren, und so fühle ich mich erschöpft, desillusioniert. Ich freue mich, im Januar mit Prof. Heike Paul über diesen Backlash zu sprechen, der mir graue Haare macht, die ich nicht überfärben möchte.
Cornelia Roth
2016 – Mein Wechselbad:
Kalt: Die Übergriffe auf Frauen in der Sylvesternacht in Köln: Schockierend, schmerzhaft. Und dann begann ganz schnell eine Stimmungsmache, die Männer muslimischen Glaubens als Vergewaltiger darstellt. Personen der Öffentlichkeit, die sich sonst als besonders wenig frauenfreundlich ausweisen, wollten plötzlich „unsere“ Frauen verteidigen – wessen Frauen? In Deutschland findet sexuelle Gewalt vor allem im privaten Bereich statt, jede fünfte Frau erlebt das, und zwar von lang hier lebenden Deutschen.
Warm: Wenige Tage später meldeten sich mit ausnahmslos.org Feministinnen gemeinsam zu Wort, wie sie in Deutschland lange nicht zusammengekommen sind. Ihr Aufruf, ausnahmslos jeden Sexismus und jede sexuelle Gewalt zu verurteilen, verbreitete sich rasend schnell im Netz.
Kalt: Der Brexit; die Landtagswahlen, bei denen die AfD erstarkte; der Wahlkampf Trumps, der lang erkämpfte No Goes gegenüber Frauen beiseite wischte – und dann sein knapper Wahlsieg.
Laura Freisberg
Zwischen Schockstarre und Hysterie: Tanzen lernen
Dieses Jahr musste ich immer wieder an Brechts Gedicht “An die Nachgeborenen” denken, besonders an diese Zeilen:
“Eine glatte Stirn / Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende/ Hat die furchtbare Nachricht/ Nur noch nicht empfangen. / Was sind das für Zeiten, wo/ Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!”
Ich will nicht abstumpfen, wenn ich vom Bürgerkrieg in Syrien lese, von Menschen auf der Flucht, die im Mittelmeer ertrinken – von den unwürdigen Bedingungen, unter denen viele Tausend andere in der Türkei und Griechenland ausharren. Ich will nicht abstumpfen, wenn die PopulistInnen ihre menschenverachtenden Parolen so lange wiederholen, bis Begriffe wie “Lügenpresse”, “Altparteien”, “Asylkritiker” und “Überfremdung” ganz normales Vokabular geworden sind. Ich will auch nicht abstumpfen, wenn gemeldet wird, dass mal wieder irgendwo eine Flüchtlingsunterkunft gebrannt hat. Ich könnte noch so viel mehr aufzählen, aber das Problem ist: Man stumpft ja tatsächlich ab, oder?
Ich will auch nicht in eine Schockstarre verfallen – wie nach der US-Wahl oder dem “Brexit”. Von einer Bekannten habe ich die Formulierung “Tanzen lernen” aufgeschnappt – um irgendwie in diesen “finsteren Zeiten” die Balance zu halten zwischen Empathie und Engagement auf der einen Seite und einem gewissen Optimismus, der ebenfalls wichtig ist, wenn man leidenschaftlich und kreativ darüber nachdenken und dafür kämpfen will, dass die Umstände besser werden.
Sophie Dezlhofer
Warum ich keine „gute Mutter“ sein will
Es ist passiert – ich habe ein Kind. Monatelang weiß man, es wird kommen – und doch trifft es einen komplett unvorbereitet. Ja, Stillen gehört dazu, schlaflose Nächte ebenfalls – und: die Angst, dass von einem selbst nicht mehr viel übrig bleibt. Als ich nach vier Monaten beschließe, das Kind könne sich jetzt mal an die Flasche gewöhnen: Von wievielen Menschen muss ich mir anhören, Stillen sei das einzig Wahre – über Monate, ja über Jahre. Den Säugling tragen, bis der Rücken einknickt – kilometerweit, zentnerschwer. Gute Mütter täten das. Hebammen, Erziehungsbücher, Krankenschwestern, Zeitschriften, Nachbarinnen, städtische Erziehungsblätter, sogar fremde Passanten: Alle glauben, sich in mein Leben einmischen zu können. Mein Leben als wirklich „gute Mutter“. Denn als Mutter bin ich Eigentum der Gesellschaft geworden. SCHLUSS. Muttersein ist ohnehin ein unentgeltlicher Dienst an der Gesellschaft, die froh sein sollte, dass es noch Menschen gibt, die diesen Job machen wollen.
Ich bin der Ansicht, einem Kind tut es am besten, wenn es seiner Mutter gut geht. Und wenn es der mit dem Stillen reicht, sie wieder arbeiten möchte, Laufstall und Wippe eine Option sind – dann ist sie vielleicht keine „gute Mutter“. Aber sie ist näher dran an dem, wer sie ist und was sie möchte. Als Frau, als Mutter, als Teil der Gesellschaft. Und das zählt doch in einer Beziehung. Darum will ich keine „gute Mutter“ sein – sondern ein liebevoller, aber selbstbestimmter Partner für mein Kind.