1985 erschienen gehört „Der Report der Magd“ zu den großen Dystopien, neben George Orwells „1984“ und Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“.
1987 folgte die deutsche Übersetzung von Helga Pfetsch. Der Roman erzählt die Geschichte einer Gesellschaft, in der religiöse Fanatiker die Macht übernommen haben – in ihrer Diktatur werden Frauen in Hausfrauen, Dienerinnen und Gebärmaschinen eingeteilt. Die Ich-Erzählerin des Romans ist eine dieser Gebärmaschinen, eine sogenannte „Magd“, deren gesellschaftliche Aufgabe es ist, vermeintlich unfruchtbaren Familien Nachwuchs zu liefern.
Als „Inspiration“ haben Margaret Atwood viele politische Systeme gedient – sie selbst sagt über den Roman, dass sie keines der Elemente der totalitären Herrschaft von “Gilead” komplett neu erfunden habe. “Gilead” enthält Anspielungen auf die rassistische Ideologie und die Eugenik der Nazis, an Ceausescus System in Rumänien, an die “Hexenprozesse von Salem” aus dem Jahr 1692.
Margaret Atwood selbst hat 1984, als sie den Roman schrieb, im geteilten Berlin gelebt – ihre Reisen in Länder wie die damalige DDR und die Tschechoslowakei ermöglichten ihr einen Einblick in Gesellschaften, die unter einem System der Spitzel zu leiden hatten.
Im Roman “Der Report der Magd” gibt es die sogenannten “Augen”, professionelle Agenten, die für den Geheimdienst arbeiten – und gleichzeitig ist der Alltag beherrscht von Misstrauen: ein falscher Blick, eine kleine kritische Andeutung – und die anderen können einen “verpfeifen”. So schildert die Ich-Erzählerin, wie phrasenhaft die Gespräche mit den anderen Mägden ablaufen, weil jede möglichst angepasst und gläubig erscheinen will. Ein weiteres historisches Ereignis, dass sich in Atwoods Roman widerspiegelt, ist die “Islamische” oder “Iranische Revolution”, die 1979 mit der Absetzung des Schahs begann und aus der sich in den folgenden Jahren eine strenge Theokratie entwickelte.
Margaret Atwood schreibt dieses Frühjahr, in einem Artikel für die New York Times:
“So many different strands fed into “The Handmaid’s Tale” — group executions, sumptuary laws, book burnings, the Lebensborn program of the SS and the child-stealing of the Argentine generals, the history of slavery, the history of American polygamy . . . the list is long.”
Das „Hier kann so etwas nicht passieren“ ist trügerisch
Natürlich ist “Der Report der Magd” eine absolut fiktionale Geschichte, aber die Faszination dieses Buches, das nun schon über dreißig Jahre alt ist und nichts an seiner Aktualität verloren zu haben scheint, ist genau in diesen historischen Verknüpfungen begründet. Denn der Glaube “Hier kann so etwas nicht passieren” ist trügerisch, das macht Atwood auch in ihrem aktuellen Artikel deutlich.
Im Leseclub wurde dann auch bald die Verbindung zu der Schreckensherrschaft des sogenannten “Islamischen Staates” gezogen, andere Teilnehmerinnen fühlten sich an die Politik der amerikanischen und europäischen Rechten/ Rechtsextremen erinnert – vor allem in Bezug auf die reproduktive Selbstbestimmung von Frauen.
Aber auch die Strukturen innerhalb der fiktiven Gesellschaft “Gilead” bieten viel Stoff für Diskussion: Zwar ist es eine patriarchale Gesellschaft, aber Atwood macht deutlich, dass dieses System nur funktioniert, weil auch Frauen darin eingebunden sind, kooperieren und profitieren: als “Ehefrauen” der Machthaber und als “Tanten”, die die Indoktrination der Mägde übernehmen.
Die Frauen, die zwangsweise im Haushalt arbeiten – im Roman “Marthas” genannt – profitieren zwar weniger von Privilegien, aber auch sie spielen eine wichtige Rolle, wenn es um soziale Kontrolle und Bespitzelung geht. Ein Beispiel für die “Frauengesellschaften” innerhalb des patriarchalen Systems ist die Szene, in der eine Geburt beschrieben wird, zu der alle “Mägde” und “Ehefrauen” des Viertels eingeladen sind. Eine Mischung aus ekstatischer Zeremonie und Kaffee-Kränzchen.
„Du wolltest doch immer eine Frauengesellschaft – hier hast du sie“
Ein spannender Twist in dem Roman ist eine Art inneres Zwiegespräch, das die “Ich-Erzählerin” mit ihrer Mutter führt – von der sie nicht weiß, ob sie überhaupt noch am Leben ist. Die Mutter wird von ihr als Feministin beschrieben, mit zum Teil radikalen Vorstellungen. In einem dieser Gedanken-Gespräche sagt sie zu ihrer Mutter: “Du wolltest doch immer eine Frauengesellschaft – hier hast du sie”.
Dazu passen auch die Vorträge der “Tanten”, die aus den Frauen fügsame Gebärmaschinen machen sollen. Von ihnen wird die Einstellung vertreten, dass Frauen Männern in gewisser Weise moralisch überlegen sind – weil Männer doch so triebgesteuerte Wesen seien. Es ist also Aufgabe der Frauen, auf ihre eigene Keuschheit und Sittsamkeit zu achten.
Eine Teilnehmerin des Leseclubs wies darauf hin, dass das nicht nur ein uraltes Geschlechter-Stereotyp sei – sondern dass sie diese Verachtung von Männern auch aus feministischen Kreisen kenne. Dort würde manchen Frauen die Überzeugung vertreten, dass Frauen die besseren Menschen seien, eben weniger aggressiv, weniger triebgesteuert.
An welchem Punkt sind wir heute?
Ebenfalls unangenehm vertraut: die Argumente des “Kommandanten”, dessen Haushalt die Ich-Erzählerin zugeteilt wird. Er trifft sich heimlich mit ihr, ködert sie mit alten Zeitschriften, die mittlerweile verboten sind, die er aber dank seiner Privilegien weiterhin besitzen kann. Mit ihm diskutiert sie schließlich über “früher” und das System “Gilead”. Er erklärt ihr, dass die Gesellschaft sich damals in die falsche Richtung entwickelt habe: zu viele Freiheiten für Homosexuelle, zu wenig Religion, zu viel Gleichberechtigung. Nun entscheidet eine kleine Gruppe von Männern, was das Richtige für die gesamte Gesellschaft ist. Unter der Diktatur leiden nicht nur die Frauen, sondern auch alle Männer, die nicht zu den privilegierten Machthabern gehören.
Auch drei Jahrzehnte nach Erscheinen des Buches, wird einem unbehaglich, wenn die Ich-Erzählerin beschreibt, wie sich das gesellschaftliche Klima Stück für Stück geändert hat. Weil man sich beim Lesen automatisch die Frage stellt: Wann hätte ich reagiert, was hätte ich selbst hingenommen? Und an welchem Punkt sind wir eigentlich heute?
Hinweise
In der Diskussion hat eine Teilnehmerin von einem Online-Studium zu Politischen Aktivismus erzählt. Hier ist der Link: https://www.edx.org/
Der Kurs heißt PSY374x Psychology of Political Activism: Women Changing the World
Am 22. Juni findet unser Filmabend mit Volker Schlöndorffs Verfilmung “Die Geschichte der Dienerin” im Werkstattkino München statt.
Außerdem startet im April auf dem amerikanischen Bezahlsender Hulu eine Serie zu “The handmaid’s tale”, in der Margaret Atwood sogar einen kleinen Cameo-Auftritt hat. (Leider ist Hulu in Deutschland nur schwer zu schauen, man braucht einen amerikanischen Zugang – es gibt aber Tricks, wie man ihn empfängt.)
Eine neue Taschenbuch-Ausgabe von „Der Report der Magd“ ist Anfang April 2017 im Piper Verlag erschienen.