Die britische Historikerin Mary Beard nennt ihr 100-Seiten schmales Bändchen “Ein Manifest” – aber es ist natürlich viel mehr: Es ist die heraus destillierte Essenz von über 3.000 Jahren Frauenfeindlichkeit in der abendländischen Kultur, von Homers Odyssee über die Verstümmelung der Lavinia in Shakespeares Titus Andronicus bis zu den Hass-Posts der heutigen Zeit.
Die Sorte von Macht, über die Mary Beard schreibt, ist eine Macht im klassischen Sinne – nämlich die Macht der Rede, die Macht, eine Stimme zu besitzen, die gehört und ernstgenommen wird. Wie sie in ihrer historischen Analyse zeigt, wurde diese Art der Macht Frauen in der antiken Polis komplett vorenthalten – und so großartig gebessert hat es sich in den Jahrhunderten danach auch nicht.
Reden und Ansprachen sind “exklusive Praktiken und Fähigkeiten, die Männlichkeit als soziales Geschlecht definierten”, schreibt Beard. Frauen hingegen, die öffentlich sprachen, gefährdeten die Hierarchie der Geschlechter, waren keine richtigen Frauen – und mussten zum Schweigen gebracht werden.
In “Frauen und Macht” hat Mary Beard zwei Vorträge verarbeitet, die sie 2014 und 2017 gehalten hat.
Ein Nachbericht zum Leseclub von Laura Freisberg
Mary Beards Schlussfolgerung ist, dass wir “Macht” von “Prestige” abkoppeln sollten und stattdessen “Macht” im Sinne von “ermächtigen” denken sollten. Mit “wir” meint sie zum einen wir Frauen*, zum anderen wir als Gesellschaft.
Was dieses Fazit denn konkret bedeuten könnte, was es für Konsequenzen hat, das war die zentrale Frage, die im Leseclub diskutiert wurde.
Warum Mary Beard diesen Vorschlag macht, das lässt sich so zusammenfassen: In ihren beiden Vorträgen hätte sich Mary Beard natürlich auch auf Texte von jüdischen und christlichen Theoretikern der letzten Jahrtausende beziehen können, um zu zeigen, “wie tief in der westlichen Kultur die Mechanismen verwurzelt sind, die Frauen zum Schweigen verurteilen, die verhindern, dass Frauen ernst genommen werden”.
Sie bezieht sich allerdings auf “die alten Griechen und Römer” – zum einen, weil sie Historikerin ist und “die alten Griechen und Römer” ihr Fachgebiet. Zum anderen aber, weil in den politischen Konzepten der Antike dem öffentlichen Sprechen eine bedeutende Rolle zukam – und unsere Vorstellungen davon, was eine gute Rede, eine gute Stimme – was gute Rhetorik ist, noch immer von antiken Konzepten geprägt werden.
Im englischen Original heißt ihr Buch “Women & Power” und mit der “Macht” ist in diesem Fall die Fähigkeit gemeint, eine öffentliche Stimme zu haben – weshalb der Titel auch “Frauen & Rederecht” sein könnte, wenn das nicht etwas hölzern klänge.
Mary Beard bezieht sich auf einen Text, der schon 3.000 Jahre alt ist, um zu zeigen, wie tief die Vorstellung im kulturellen Gedächtnis verankert ist, dass Frauen besser schweigen sollten und dass es Sache der Männer ist, Reden zu schwingen. Sie weist auf eine Szene in der Odyssee von Homer hin, in der Odysseus’ Sohn Telemachos beweist, wer Herr im Haus ist, als er seiner Mutter das Wort verbietet und sie auf ihr Zimmer schickt.
Es ist demnach integraler Bestandteil des Erwachsenwerdens, weibliche Wesen zum Schweigen zu bringen, denn “Rede ist Sache der Männer”. Die Definition, was männlich und was weiblich ist, hat mit dem Anspruch auf das Rederecht zu tun. Hier drängt sich natürlich die Frage auf, warum das so ist und ob dieses Rederecht für alle Männer galt (für Sklaven nämlich nicht) – aber darauf geht Mary Beard nicht ein. Das Buch basiert ja auf zwei Vorträgen, die Mary Beard für die Veröffentlichung als Texte nur leicht adaptiert hat.
Beard nennt einige wenige Ausnahmen, zu welchen Anlässen Frauen das öffentliche Sprechen doch gestattet war: wenn sie z.B. als Opfer einer Vergewaltigung auftraten oder wenn sie im Kriegsfall für Frauenanliegen eintreten. Aber niemals für das Gemeinwesen als Ganzes! Wenn sie es doch tun, zahlen sie dafür einen hohen Preis – sie werden diffamiert, ihnen wird die “Weiblichkeit” abgesprochen, sie gelten als Bedrohung für die Gesellschaft – es folgt Drama, Tod, Zerstörung. (Siehe antike Dramen)
Mary Beard zeigt auf, wie diese antiken Vorstellungen auch heute noch auftauchen – zum Beispiel, wenn Politikerinnen wie Angela Merkel oder Hillary Clinton als Fratzen mit Medusen-Haar dargestellt werden. Und in diesen Darstellungen steckt auch die drastische (verbale) Gewalt, mit der gegen Frauen vorgegangen wird, die nicht schweigen. Ein immer wiederkehrendes Beispiel für Frauen, die über Dinge sprechen, die vermeintlich nicht in ihren Kompetenzbereich fallen, sind Fußball-Kommentatorinnen: die Empörung, die eine Frau auslöst, wenn sie öffentlich über (Männer) Fußball spricht ist erstaunlich.
Worauf Mary Beard nicht weiter eingeht: selbst Frauen machen bei diesen Festschreibungen mit, wenn sie andere Frauen diffamieren (Mutti Merkel etc). Aber der Schluss liegt nahe, dass auch Frauen diese Vorstellungen verinnerlicht haben.
Beards Fazit, dass “Macht” neu gedacht werden müsse – nämlich abgekoppelt von Prestige, als etwas Gemeinschaftliches: “nicht nur die Macht von Führern sehen, sondern auch die Macht derer, die ihnen folgen” – könnte man auch entgegnen, dass das ein “Einknicken” bedeutet vor dem heftigen Widerstand, den Frauen erfahren können, wenn sie sich öffentlich äußern. Aber warum sollten Frauen auf Prestige verzichten?
Allerdings liegt in einer Neuinterpretation der “Macht” auch eine Chance: es eröffnen sich neue Gestaltungsspielräume und Allianzen.
Das wird zum Beispiel deutlich, wenn man mit Beards simpler Frage (also: können wir Macht von Prestige abkoppeln?) einen neuen Blick auf feministische bzw politik-theoretische Texte wirft. Denkerinnen wie Simone de Beauvoir oder Hannah Arendt, haben sich mit ihrem Verständnis, was Freiheit bedeutet, sehr an klassischen Konzepten orientiert, wenn sie mit Freiheit so etwas wie “Größe, Heldenhaftigkeit, Erhabenheit” und den Bezug zur “Welt” verbinden. Vgl Barbara Holland-Cunz.
Dieses Freiheits-Konzept entspricht in etwa dem “muthos”, also dem öffentlichen Sprechen, das Mary Beard als historisch gesehen “männliche Sphäre” beschreibt.
Heißt das im Umkehrschluss, dass alle Menschen, die keine Chance auf das “öffentliche Sprechen” haben, unfrei sind? Oder ist dieser Freiheitsbegriff, der sich an der antiken Polis (ohne Frauen, ohne Sklaven) orientiert, überhaupt noch haltbar?
Zweitens wäre es ein Schritt in Richtung Ermächtigung, diese Einteilung in “öffentlich” und “privat”, in relevant und nicht relevant, zu durchbrechen.
Denn gerade Fragen, die das Private regeln, sind in hohem Maße politisch – zum Beispiel alles was mit “Care”, also Pflege und Fürsorge zu tun hat. Damit soll auf keinen Fall die “Macht” von Frauen* wieder nur auf vermeintliche Frauenthemen begrenzt werden. Aber für viele Menschen ist die Care-Arbeit ein wichtiges Thema – wo durch gemeinschaftliches Engagement viel erreicht werden kann – ohne dass sich mit diesen Anliegen besonders viel Prestige erlangen lasse.
Mary Beards Buch endet mit mehr Fragen als Vorschlägen, wie das Verhältnis von “Frauen und Macht” in Zukunft aussehen könnte – aber ihre historische Analyse zeigt, dass ein “Zurück” keine Option ist.