Ein offener Brief von Slutwalk München an Alice Schwarzer und EMMA
Immer wieder werden feministische Anliegen – wie der Kampf gegen sexualisierte Gewalt – instrumentalisiert, um gegen einzelne Bevölkerungsgruppen zu hetzen. „Was in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof geschah, ist sexualisierte Gewalt. Was danach geschah, ist Rassismus“, schreiben Slutwalk München in ihrem offenen Brief an Alice Schwarzer und EMMA.
Hier folgt der Brief. Was denken Sie? Diskutieren Sie!
Liebe Alice Schwarzer, liebe EMMA-Redaktion,
in den letzten Monaten habt ihr immer wieder versucht, euch von dem Rassismusvorwurf freizusprechen. Wenn ihr wirklich selber glaubt nicht rassistisch zu sein, dann bedeutet das, dass ihr das Wesen des Rassismus nicht begriffen habt. Und wenn ihr Initiativen wie #ausnahmslos vorwerft, Antirassismus vor Antisexismus zu stellen, dann habt ihr auch nicht das Prinzip der Intersektionalität und eigentlich auch nicht den Feminismus begriffen, denn im Sinne des Feminismus zu handeln bedeutet u.a. Machtmechanismen aufzudecken. Den Unterschied zwischen Unterdrückern und Unterdrückten zu erkennen und sich entsprechend zu positionieren. Zugestehen, dass Minderheiten in einer Gesellschaft einen besonderen Status haben und besonderen Schutz benötigen.
Anstatt jedoch diese unterschiedlichen Machtverhältnisse zu berücksichtigen, das Zusammenwirken verschiedener Diskriminierungsformen anzuerkennen und entsprechend differenziert zu agieren, hetzt ihr gegen die Schwächsten unserer Gesellschaft, gegen geflüchtete Menschen.
Ihr zeichnet ein Bild, in dem Menschen sexualisierte Gewalt ausüben, „weil sie Muslime sind“. Eine unwahre Behauptung („Muslime sind Straftäter“), wird genommen und durch sich selbst begründet („Muslime sind Straftäter, weil sie Muslime sind“). In einer rape culture, einer Gesellschaft, in der sexualisierte Gewalt verharmlost, toleriert und begünstigt wird, werden Zuschreibungen von Tätern zu einem bestimmten Milieu stets nur dafür genutzt, das Gesamtproblem kleinzureden – mit der Realität haben sie nichts zu tun. Ihr wisst das doch eigentlich. Und dennoch baut ihr ein Bild von den vermeintlich sexuell übergriffigen muslimischen Männern, den „Macho-Männern“ (Schwarzer Alice, in: EMMA November/Dezember 2015 „Sie muss es schaffen“), wie ihr schreibt, auf. Es wird der Eindruck erweckt Sexismus und sexualisierte Gewalt sei ein spezielles Problem muslimischer Männer (vgl. „Die Folgen der falschen Toleranz“, Alice Schwarzer 5.01.2016). Und dies entgegen allen Statistiken, entgegen jeder Realität. Der „muslimische Mann“, die „dunkle Gasse“ – beides sind Vergewaltigungsmythen.
Und obwohl ihr eifrig bemüht seid, der Öffentlichkeit weiszumachen, ihr würdet zwischen Muslimen und Islamisten differenzieren – ihr tut es de facto nicht, in so vielen eurer Artikel wird der Islam als solches mit der Unterdrückung der Frauen gleichgesetzt und Sexismus als Bestandteil dieser Kultur begriffen. Eure Darstellung muslimischer Menschen geht von Extremen aus und ist von Gewaltvorstellungen durchtränkt.
Perfiderweise werft ihr all denjenigen, die sich weigern, bei eurer rassistischen Hetze mitzumachen und eine marginalisierte Gruppe gegen eine andere auszuspielen, Scheinheiligkeit und falsche Toleranz vor. Antisexistische Initiativen, die zugleich antirassistisch agieren, seien selbstgerecht und würden sich nicht trauen, sexualisierte Gewalt zu benennen aus Angst vor dem Rassismusvorwurf (vgl. „Die Folgen der falschen Toleranz“, Alice Schwarzer 5.01.2016; „Kalaschnikows, Sprenggürtel und jetzt die sexuelle Gewalt“, Interview mit Alice Schwarzer in Die Welt, 15.01.2016).
Was für ein Unsinn! Was in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof geschah, ist sexualisierte Gewalt. Doch was danach geschah, ist Rassismus. Und wir schrecken nicht davor zurück, beides zu benennen und die Täter zu verurteilen. Denn die gesellschaftlichen Strukturen, die Sexismus und Rassismus bedingen, sind dieselben. Diese Unterdrückungsformen sind nur zusammen begreifbar und bekämpfbar. Wir werden uns nicht in einen „Kampf der Kulturen“ verwickeln lassen, denn die fraglichen Kulturen sind beide patriarchal geprägt. Und eine Integration in eine Kultur, in der sexuelle Belästigung nicht strafbar ist, eine Kultur, in der selbst eine Vergewaltigung unter vielen Umständen nicht strafbar ist, ist kein erstrebenswertes Ziel. Das Ziel muss sein, gemeinsam eine Kultur zu entwickeln, in der sexualisierte Übergriffe nicht mehr an der Tagesordnung stehen. Das gelingt nicht, indem man eine Gruppe von Menschen zu potenziellen Tätern stilisiert.
Das auszusprechen bedeutet nicht, sexualisierte Gewalt, unter denen Frauen speziell in autoritären und fundamentalistischen Staaten leiden, zu relativieren. Oder zu leugnen, dass momentan viele Männer mit einem patriarchalen Selbstverständnis in Deutschland ankommen. Sondern es geht darum sexualisierte Gewalt zu verurteilen, ohne dies biologistisch und kulturalisierend – also rassistisch zu formulieren. Es bedeutet, anzuerkennen, dass ein gesamtgesellschaftliches Problem nur auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene zu lösen ist – und keinesfalls, indem man Unterdrückung mit Unterdrückung beantwortet.
Wir befinden uns in einer Zeit, in der sich Rassismus und Rechtspopulismus zunehmend in der Gesellschaft manifestieren und in der das Level an Alltagsaggression gegen Geflüchtete höher ist denn je. Was früher noch unter vorgehaltener Hand gesagt wurde, kann jetzt offen und gesellschaftlich legitimiert geäußert werden. In dieser Zeit werden auch feministische Anliegen – wie der Kampf gegen sexualisierte Gewalt – instrumentalisiert, um gegen einzelne Bevölkerungsgruppen zu hetzen.
In dieser Situation halten wir es nicht für sinnvoll durch Artikel in denen der Kriegszustand heraufbeschworen wird (vgl. „War die Silvester-Terrornacht organisiert?“, Alice Schwarzer 15.01.2016) die rassistische Grundstimmung noch weiter anzuheizen. Vielmehr wäre es wünschenswert, dass sich möglichst viele Vertreter*innen des Feminismus gegen diese rassistische Vereinnahmung wehren und sich entsprechend differenziert und verantwortungsvoll zu asylpolitischen Themen äußern. Stattdessen müssen wir in eurem Magazin die gleichen polarisierenden Artikel in der bekannten Schwarz-Weiß-Manier wie immer lesen. Wir sind empört. Und wir verstehen nicht. Wir sind empört, darüber wie gleichgültig ihr euch in der aktuellen Situation gegenüber den Menschen, die bei uns Schutz suchen, zeigt. Wir verstehen nicht, wie es sein kann, dass ihr euch auf die Seite derer stellt, die die Angst schüren, die in den Geflüchteten eine Gefahr für die Gleichberechtigung und im Islam eine Bedrohung unserer Werte sehen. Mit eurer von Stereotypen und Vorurteilen triefenden Berichtserstattung schadet ihr nicht nur den muslimischen und den geflüchteten Frauen sondern auch der feministischen Idee.
Für uns bedeutet Feminismus für eine bessere, eine gerechtere Welt zu kämpfen, in der alle Geschlechter gleichberechtigt und frei leben können. Wir finden es wichtig der aktuellen öffentlichen Debatte, die geprägt ist von Misstrauen, Angst und Feindseligkeit, etwas entgegenzusetzen. Wir lehnen es ab, in dieser Zeit noch mehr Angst und Sorge zu schüren, wie es in der Zeitschrift EMMA geschieht. Vielmehr möchten wir zu einem Dialog, zu einer echten Auseinandersetzung darüber, wie wir mit Unterschieden umgehen wollen, aufrufen. Differenzen müssen benannt, Konflikte müssen ausgetragen werden aber bitte auf Augenhöhe und nicht ohne die Grundlage unseres demokratischen Rechtstaates, die Menschenrechte aufzugeben, denn Täter gehören bestraft, und nicht abgeschoben (vgl. SPIEGEL-Streitgespräch zwischen Anne Wizorek und Alice Schwarzer „Ich möchte nicht deine Erbin sein“ am 16.01.2016).
Wir verstehen Feminismus als eine Vision von Emanzipation, die über die Grenzen von Geschlecht, Hautfarbe und Religion hinaus geht. Daher setzen wir uns #ausnahmslos gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus ein – Feminismus ohne Antirassismus geht nicht.
Bleibt uns nur noch euch Mut zur Selbstreflexion zu wünschen!
Slutwalk München
Demonstration
Gegen rassistische Stimmungsmache geht Slutwalk München auf die Straße: 16. Juli 2016, 13:00 Uhr am Karlsplatz/Stachus München